Wenn von „Zeitenwende“, „existenziellen Krisen“, „gesellschaftlicher Spaltung“, also von in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Zuständen die Rede ist, dann meist, um damit außergewöhnliche Maßnahmen zu begründen. Jenseits der Einsicht, dass die meisten Krisen nicht außergewöhnlich, sondern im besten Sinne gewöhnlich, also normal sind, da sie vielmehr die Krisendynamiken kapitalistischer Gesellschaften offenlegen, stehen gesellschaftliche wie ökonomische Krisen in einem vielfältigem, oftmals ambivalenten, immer aber sehr engem Verhältnis zur Sozialen Arbeit, ihren Handlungsfeldern, Theorien und Akteur*innen. Dies trifft erst recht und in besonderer Weise zu, wenn allenthalben von multiplen existenziellen Krisen, Systemversagen oder gar von „Gesellschaften am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (Lessenich, 2022) die Rede ist. Aus einer soziologischen Perspektive sind Krisen einerseits Legitimationsquellen für Soziale Arbeit, die so eine institutionelle Antwort auf mögliche Krisenfolgen liefert. Andererseits scheinen Krisen an sich bereits integral für das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit zu sein: „In der Krise ist die Soziale Arbeit bei sich selbst, hier läuft sie zu großer Form auf, hier entwickelt sie Lösungswege, diagnostiziert, berät, koordiniert, beschafft, macht und tut.“ (Schönig, 2022, S. 18)
Ist der Krisenbegriff häufig auch notwendig unscharf und in seiner Reichweite unbestimmt, so scheint in dieser Unbestimmtheit auch ein Teil seiner Attraktivität zu liegen. Viele der gegenwärtig als krisenhaft gelesenen Prozesse erzeugen Handlungsdruck auf die Soziale Arbeit und ihrer Akteure. So werden z.B. krisenhafte Verschärfungen globaler Ungleichheiten zum Anlass genommen auch trans- und international die Reformulierung grundlegender Annahmen der Sozialen Arbeit zu postulieren (Baier et al., 2022; Lutz & Kleibl, 2020) oder über sozialökologische Transformationsprozesse nachzudenken (Spatschek et al., 2020).
Dabei bleibt Soziale Arbeit als Teil der Gesellschaft von krisenhaften Erscheinungen nicht unberührt, denn neben der Befähigung zur Krisenbearbeitung wird dem Fach mithin selbst eine Krise attestiert (Henseler & Kurtz, 2022), die zumeist mit den Begriffen Ökonomisierung und Neoliberalisierung in Verbindung gebracht wird. Soziale Arbeit selbst ist derart immer auch in gesellschaftliche und damit notwendig krisenhafte Entwicklungsdynamiken eingebunden.
Die Begriffe „Krise“ und „Kritik“ im Titel unserer diesjährigen Online-Tagung soll dazu anregen, mit sozialarbeiterischen aber auch soziologischen, politischen und pädagogischen Beiträgen an der Verständigung über Krisenverständnis und Kritikfähigkeit der Sozialen Arbeit teilzunehmen.
Virtuelle Fachtagung
Datum: 24.11.2023
Inhalte der Fachtagung
Wir erhoffen uns für diese Tagung Beiträge von Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Studierenden. Anknüpfend an die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren wollen wir erneut einen breiten inhaltlichen Rahmen aufspannen. Insbesondere wird um Einreichungen gebeten, die empirisch und/oder praxisnah Bezüge zu u.a. folgenden Themen herstellen:
Globale Krisen und ihre Auswirkungen auf Internationale Soziale Arbeit
Von der gesellschaftlichen Krise zur Kritik der Gesellschaft
Solidaritätspotenziale in der Krise
Ethiken der Sozialen Arbeit & Krise
Soziale Arbeit unter Ökonomisierungsdruck
Geschlechterbezogene Aspekte der Krisenbearbeitung
Krisenreaktanz und autoritäre Formierungsversuche als Bezugsproblem Sozialer Arbeit
Digitalisierung in der Krise zwischen Emanzipation und Herrschaftsinstrument
Krisenprävention durch Soziale Arbeit
Programmkomitee
Prof. Dr. Katrin Sen (Frankfurt/M)
Prof. Dr. Bärbel Schomers (Köln)
Prof. Dr. Martin Staats (Erfurt)
Prof. Dr. Jens Rieger (Hannover)
Prof. Dr. Holger Knothe (München)
Prof. Dr. Mehmet Kart (Hannover)
Prof. Dr. Boris Friele (Berlin)
Prof. Dr. Dirk Wassermann (Hamburg)